ARCHIVDIALOGE #1Bauplan Zukunft (laufende Arbeit)

Mein Vater war Fotograf. Er hat mir sein Archiv hinterlassen: zehn Umzugskartons mit Abzügen und Negativen. Monatelang habe ich es gesichtet und sortiert. Dabei bin ich auf ein mir unbekanntes Konvolut gestoßen, das die Entstehung der Neubaugebiete im Rostocker Nordwesten in den 1970er und 1980er Jahren dokumentiert und mich auf merkwürdige Weise berührt hat. Es enthält viele Aufnahmen von Lichtenhagen und Groß Klein, den Stadtteilen, in denen ich aufgewachsen bin. In diesen Bildern habe ich zum ersten Mal etwas gesehen, das ich zuvor nie mit ostdeutschen Plattenbausiedlungen in Verbindung gebracht hatte: einen Geist von Aufbruch und Erneuerung, ein Versprechen der Moderne an die Generation meiner Eltern. Diese positiven Assoziationen mit den Orten meiner Kindheit haben mich überrascht. Als ich vor mehr als zwanzig Jahren nach Berlin zog, war davon schon nichts mehr zu spüren. Dem politischen Umbruch war in den 1990er Jahren der soziale gefolgt. Während ich permanent auf der Hut vor weißen Schnürsenkeln, Lonsdale-Shirts und Bomberjacken war, kehrten immer mehr Familien den Neubauvierteln den Rücken. Auch ich bin gegangen und auf Distanz geblieben.
Das ungewohnte Echo, das diese Bilder in mir ausgelöst haben, hat mich zu einer Erkundungsreise veranlasst. Ich wollte herausfinden, worauf meine Distanz beruht: Auf dem fundamentalen Imagewandel der ostdeutschen Neubaugebiete in den vergangenen dreißig Jahren oder auf meinem eigenen Erleben der Vor- und Nachwendezeit? Es ist leicht, sich mit der mecklenburgischen Landschaft verbunden zu fühlen. Ihrer Schönheit konnten die 1990er Jahre nichts anhaben. Ich wollte das Versprechen der Moderne ergründen, den Geist des Aufbruchs aufspüren, zwischen Waschputz und Beton. Beides erschien mir seltsam überschrieben und verblasst, genau wie die Alltagsgeschichten meiner Kindheit im Plattenbau. Die Fotos aber sind es nicht. Deshalb bin ich mit ihnen in einen Dialog getreten. Ich bin den Assoziationen gefolgt, die sie hervorgerufen, den Erinnerungen nachgegangen, die sie geweckt haben. Ich habe Familie, Freund*innen und die unterschiedlichsten Archive genauso befragt wie meine Schulbücher und wissenschaftliche Studien, ich habe Filme angesehen, Musik gehört. Diese Suchbewegungen haben mich mal von dem Foto einer Straßenkreuzung über Bertolt Brecht zu Beate Uhse geführt, mal von einer Poliklinik über Salvador Allende zum Pioniergeburtstag und der Privatisierung des ostdeutschen Gesundheitssystems. Ich habe sie als kurze Textcollagen aus Erinnerungsfragmenten und assoziativen Recherchen festgehalten. Die daraus entstandenen Plattenbaugeschichten sind zusammen mit der Lichttisch-Serie über die letzten Jahre zum Ausgangspunkt einer intensiven künstlerischen Auseinandersetzung geworden. Die Arbeit Archivdialoge #1 – Bauplan Zukunft ist ihr Ergebnis. Sie umfasst mit Texten, Fotomontagen, Zeichnungen, Collagen und Objekten aktuell acht eigenständige Serien, die sich ergänzen und aufeinander verweisen.

 
Die Arbeit LICHTTISCH markiert das Archivmaterial als Ausgangspunkt und materielle wie visuelle Grundlage der Archivdialoge.

Die PLATTENBAUGESCHICHTEN sind Kombinationen aus Archivbildern und Texten, die das in der Vergangenheit Dokumentierte aus der Gegenwart betrachten und dem Wandel von individueller und gesellschaftlicher Deutung aussetzen.

Die Collagen-Reihe DECONSTRUCTING PLATTENBAU geht dem visionären Kern und der Materialität der Architektur nach, konzentriert sich auf Form und Struktur und setzt sie zu Utopie und Realität gleichermaßen ins Verhältnis.

MUSTERWOHNUNG kombiniert original DDR-Tapeten der 1970er und 1980er Jahre mit den typischen Wohnungsgrundrissen der Neubauviertel, die im gleichen Zeitraum entstanden sind.

REVISITING RITUALS & GESTURES hingegen unterzieht vormals gewöhnliche Rituale, wie Fahnenappelle oder kollektive Arbeitseinsätze, und die mit ihnen verbundenen Gesten, einer aktuellen Revision.

WOHNSTRUKTUREN legt die baulichen Grundstrukturen verschiedener Plattenbausiedlungen frei und überführt sie in grafische Abstraktion.

BECOMING Vom Werden und Wachsen der Wohnkomplexe in Lichtenhagen und Groß Klein zeugen drei 180° bis 360° Panoramen aus den Jahren 1979, 1983 und 2021: Vom freien Feld, zur klar abgezeichneten, architektonischen Form zur Strukturintervention der Natur. Ergänzt werden die großformatigen Panoramen durch eine Videoinstallation.


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